Gewerkschafter im Auswärtigen Dienst

Die Pistole des Jassir Arafat

Der Gewerkschaftsdiplomat: Gerd Muhr auf dem internationalem Parkett der ILO

– hinter ihm seine Mitarbeiterin Ursula Engelen-Kefer

(Bild: Privater Nachlass Gerd Muhr)

 

Außenpolitik und persönliche Überzeugungen in Übereinstimmung zu bringen kann für außenpolitische Akteure an den Gesetzmäßigkeiten der Diplomatie scheitern. Einer, der in Haltungsfragen – auch in der Außenpolitik – vorbildlich agierte, war der Metallgewerkschafter Gerd Muhr.

 

Von  S t e f a n  R e m e k e

14. November 2023 / Lesedauer etwa 8 Minuten

 

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Die Nahostfrage, also die Suche nach einer stabilen Friedenslösung zwischen Israel, den arabischen Anrainerstaaten und einem zu etablierenden Palästinenserstaat, trug und trägt noch immer wie kaum eine weitere weltpolitische Herausforderung zugleich das bedrohliche Potenzial in sich, die Vereinten Nationen zu schwächen, ja zu spalten oder sogar existenziell zu gefährden. 

 

Dies wird in der Gegenwart durch den grausamen Terrorkrieg der palästinensischen Hamas gegen Israel und seinen Höhepunkt, den dieser am 7. Oktober 2023 fand, wieder erfahrbar. Mehr als 1.200 Menschen wurden in Israel getötet, 5.400 verletzt und über 250 in den Gazastreifen entführt. In einer Ende Oktober verabschiedeten Resolution waren die Vereinten Nationen nicht imstande, darin den Terror der Hamas eindeutig und scharf zu verurteilen. Dennoch wurde die Resolution mit großer Mehrheit angenommen – gegen den Widerspruch Israels und der Vereinigten Staaten. Die deutsche Bundesregierung enthielt sich und reihte sich nicht – neben etwa Österreich, Tschechien oder Kroatien – unter den Unterstützern Israels ein. Im Auswärtigen Amt begründete man dies mit einer diplomatischen Vermittlerrolle, die Deutschland im Konflikt zwischen Israel und arabischen Staaten einnehmen wolle.

 

Die Konstellation erinnert an einen Vorgang in den 1970er Jahren in einer Nebenorganisation der Vereinten Nationen: der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO/IAO) mit Sitz in Genf. Hier führte der Nahostkonflikt in einer vergleichbaren Situation – wenige Jahre nach dem Olympiaattentat von München – seinerzeit zum angekündigten Rückzug der USA aus der ILO und zur drohenden Handlungsunfähigkeit der gesamten Organisation. Anders als im aktuellen Fall stand die deutsche Delegation bei der ILO damals bedingungslos an der Seite Israels. Verantwortlich dafür war auch ein deutscher Metallgewerkschafter. Und die Klarheit und Konsequenz seiner Haltung hinderten ihn nicht daran, zugleich als Diplomat für eine neue Verständigung innerhalb der ILO engagiert zu kämpfen.

 

In die Nahostfrage waren die Vereinten Nationen von Beginn an involviert. Basierend auf den Planungen der UNO, wurde die Gründung des Staates Israel durch eine Aufteilung des ehemals von Großbritannien verwalteten Palästinas ermöglicht. Fortan war die UNO mit Resolutionen und UN-Truppen an den Konflikten zwischen Israel und den arabischen Anrainerstaaten unmittelbar beteiligt. Vor dem Hintergrund einer sich verstetigenden Krise ohne greifbare Lösungsperspektive stieg Jassir Arafat als Führer einer radikalen Befreiungsbewegung zur ambivalenten politischen Figur auf. Der Gründer der Fatah, der Bewegung zur Befreiung Palästinas, war seit 1969 Anführer der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), die das Existenzrecht des Staates Israel nicht anerkannte. Als Vertretung der Interessen der Palästinenser erhielt die PLO 1974 Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen.

 

Dies waren die Ereignisse, welche die 60. Internationale Arbeitskonferenz in Genf im Juni 1975 überschatteten und deren Folgen die Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen in eine schwierige Krise führen sollten. Auslöser war ein der Konferenz vorliegender Antrag, der PLO entsprechend dem Verfahren der Vereinten Nationen auch bei den Internationalen Arbeitskonferenzen Beobachterstatus zu gewähren. Dagegen regte sich unter den westlichen Staaten starker Widerstand. Als Gesicht dieses Widerstands fungierte mit einem beachteten Auftritt vor der Internationalen Arbeitskonferenz der deutsche Metallgewerkschafter Gerd Muhr.

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In der IG-Metall: Gerd Muhr mit Otto Brenner           Im Weißen Haus: Gerd Muhr mit Jimmy Carter und Helmut Schmidt

(Bilder: Privater Nachlass Gerd Muhr)

Gerd Muhr

Am 11. April 1924 in Bad Honnef geboren, macht Muhr zunächst in der IG Metall Karriere: erst als Geschäftsführer der IG Metall in Siegburg, dann – seit 1955 – in der Vorstandsverwaltung der Metallgewerkschaft in Frankfurt am Main. In den Vorstand der Metallgewerkschaft wird er 1963 berufen, unter dem Vorsitzenden Otto Brenner ist Muhr verantwortlich für sein Spezialgebiet: die Sozialpolitik. Im Mai 1969 wechselt Muhr nach Düsseldorf. Er wird stellvertretender Vorsitzender des DGB hinter Heinz-Oskar Vetter und ist für die Abteilungen Sozialpolitik und Arbeitsrecht, später auch für die Arbeitsmarktpolitik zuständig. Bis 1990 agiert Muhr im DGB, auch unter dem Vorsitzenden Ernst Breit. 

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"Verniedlichung der Gewalt" und Arafats Palmenzweig

 

Herausgefordert von dem vorhergehenden Plädoyer für Jassir Arafat und die PLO durch den Unterstaatssekretär im ägyptischen Arbeitsministerium, Abd El Moghni Said Salama, zeigte Gerd Muhr seine kämpferische rhetorische Seite, die vor dem versammelten Plenum der ILO, der Internationalen Arbeitskonferenz, vor dem gemeinhin eine diplomatische Diktion gepflegt wurde, für Aufsehen sorgte. 

"Ich wollte, meine Damen und Herren, eigentlich zur PLO gar nichts sagen. Ich hätte diese Absicht auch durchgehalten, wenn mich nicht der verehrte Herr Salama doch zu einem etwas anderen Verhalten gezwungen hätte", eröffnete Gerd Muhr seine Einlassung. "Ich kann die Verniedlichung der Gewalt, die Herr Salama von diesem Podium aus vertreten hat, nicht akzeptieren. Noch ist für uns, verehrter Herr Salama, München nicht vergessen. Die Narben, die uns dort zugefügt worden sind, können auch mit den Mitteln der schönsten Kosmetik so schnell nicht in die Verborgenheit geraten. Wir haben gesehen, mit welch brutaler Gewalt man in den Frieden der Olympischen Spiele eingedrungen ist, um nur eines dieser Beispiele zu nehmen. Und Sie, Herr Salama, haben gesagt: 'Aber Arafat ist doch mit dem Palmenzweig vor die Vereinten Nationen getreten.' Jawohl! Wir alle haben das Bild gesehen. Er hielt den Palmenzweig so hoch, dass hinten die Pistolentasche herauskam. Und das ist doch geradezu das Symbolische eines solchen Bildes. Es ist doch nicht aus der Welt zu schaffen, dass er der erste Redner vor diesem Forum war, der mit einer Pistole vor den Delegierten aufgetreten ist. Ich kann Ihnen nur sagen, ich glaube an den Palmenzweig Herrn Arafats so lange nicht, bis nicht seine Pistole ein für alle Male in die Asservatenkammer seiner Organisation zurückgeführt worden ist."(1)

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Gerd Muhr

Zu Muhrs Aufgabenbereich im DGB zählt auch die Vertretung der deutschen Gewerkschaften bei der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf. In dieser Nebenorganisation der Vereinten Nationen macht er, von der deutschen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, eine außergewöhnliche Karriere. Die Organisation für Arbeit und Soziales der UNO – die „United Nations of Labour“ – verwandelt sich im Zeichen vielfältiger globaler Konfliktlagen insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren zu einer Bühne der Weltpolitik. In dieser turbulenten Zeit steigt Muhr in der ILO auf: bis zum ersten Repräsentanten aller weltweit in der ILO vertretenen Gewerkschaften und schließlich zum Präsidenten des ILO-Verwaltungsrates. Damit ist Muhr ranghöchster Diplomat hinter dem ILO-Generaldirektor. 

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Baader-Meinhof-Bande in der UNO? Kissinger reagiert

 

Dieser Vorfall von 1975 sei nur eine nebensächliche Episode, mag man meinen, eine, bei der Gerd Muhr wohl sein rhetorisches Talent aufblitzen ließ und das Bild des vermeintlich friedfertig gestimmten Jassir Arafat mit Geschick entlarvte. Bei dessen Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen im November 1974 – wohlgemerkt in Uniform und mit angelegtem Pistolenholster – hatte Arafat sich entsprechend in Szene gesetzt. 

Doch der Vorfall in Genf einige Monate später war weit mehr als eine Episode. Er markierte den Eintritt der ILO in eine Phase, in der ihre Existenz infrage gestellt werden sollte. Unmittelbar nach der Rückkehr aus Genf 1975 ahnten Gerd Muhr und die Delegation des DGB, dass die Konsequenzen für die ILO dramatisch werden könnten. 

In einem internen Bericht zur 60. Internationalen Arbeitskonferenz führte man aus: "Zu einem Eklat ist es während der Konferenz gekommen, als der PLO gegen den Widerstand der Regierungs-, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter verschiedener westlicher Industrienationen Beobachterstatus bei Internationalen Arbeitskonferenzen und Regionalkonferenzen eingeräumt wurde. Die Absurdität dieses Beschlusses lässt sich kaum eindrucksvoller darstellen als mit dem Hinweis, dass jetzt theoretisch auch die 'Baader-Meinhof-Bande' als Beobachter zu den Konferenzen der IAO zugelassen werden kann. Unter Protest haben die amerikanischen und israelischen Arbeitnehmervertreter die Konferenz verlassen. Gerd Muhr hat in seiner Rede vor dem Plenum die Konferenz eindringlich davor gewarnt, dass die Internationale Arbeitsorganisation zu einer 'zweiten politischen Plattform' neben den Vereinten Nationen umfunktioniert wird (…). Die Folgen des Auszugs der amerikanischen Gewerkschaftsvertreter, die diesmal mit besonders starker Besetzung erschienen waren, aus der Konferenz sind nicht abzusehen."(2)

Die Folgen waren in der Tat kritisch: Henry Kissinger beantragte den Austritt der USA aus der ILO. Die USA wollten als Hauptfinanzier nicht mehr bezahlen für eine Organisation, die im Nahostkonflikt oder im Ost-West-Konflikt antiwestliche Beschlüsse immer weniger zu verhindern wusste und in politischen Konflikten zu erstarren drohte – und ihre sozialpolitische Arbeit nicht mehr erledigen konnte.

Gerd Muhr avancierte seinerzeit zum "transatlantischen Diplomaten": proamerikanisch, proisraelisch versuchte er, zwischen ILO und den Vereinigten Staaten zu vermitteln und für den Verbleib der USA in der ILO zu werben. Einen Höhepunkt seiner Initiativen stellte die USA-Reise Muhrs im Jahr 1977 dar, bei der er Bundeskanzler Helmut Schmidt begleitete und von Jimmy Carter empfangen wurde. Muhr sprach auf Kongressen der AFL-CIO und suchte den Kontakt zu deren mächtigem Präsidenten George Meany, der "Moskau-Pilger", wie er westdeutsche Gewerkschafter nannte, jedoch "kalt abblitzen" ließ.

Dass die USA 1980 wieder der ILO beitraten, war unzweifelhaft nicht Gerd Muhrs Verdienst. Der Vorgang aber zeigte, wie Gerd Muhr über die ILO und sein ursprünglich sozialpolitisches Anliegen zu einer Art "Außenamtschef" der westdeutschen Gewerkschaften aufstieg – und schließlich über seine exponierte Rolle in Genf als "Chefdiplomat" aller in der ILO vertretenen Gewerkschaften der Weltorganisation ein "diplomatisches Schwergewicht" wurde.

 

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Von der Nahostfrage zu Solidarność, Diktaturen und Apartheid

 

In dieser Funktion agierte Gerd Muhr in weiteren internationalen Konflikten im Umfeld der Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen als umtriebig Handelnder: bei der Bewegung der Solidarność in Polen etwa oder im Anti-Apartheid-Kampf im Süden Afrikas. Die "Gewerkschaftsrechte" – also die Möglichkeit zur unabhängigen Betätigung freier Gewerkschaften – wurden dabei zu jenem Schlüsselthema, das Gerd Muhr in besonderer Weise motivierte. Für Gerd Muhr waren die Gewerkschaften als "Agenten des Sozialen" stets Motor von Befreiungs- und Demokratiebewegungen. In den 1970er Jahren hatte er dies durch eigene Interventionen gegen die südeuropäischen Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland wiederholt zum Ausdruck gebracht. So harmlos, wie sie vielleicht zu sein schienen, waren Interventionen von Gerd Muhr dabei nicht. In einem Fall lässt sich das genauer verfolgen. 

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Zitation:

Stefan Remeke: Gewerkschafter im Auswärtigen Dienst  – Die Pistole des Yassir Arafat, Version 1.0, in: herb. Beiträge zur Geschichte der Arbeitswelt – Das Webjournal der agentur für historische publizistik, 15. November 2023, letztes Update vom 15.11.2023.

Quellen:

(1) Rede Gerd Muhrs zur Zulassung von Befreiungsbewegungen während der 60. Internationalen Arbeitskonferenz vom 4-25. Juni 1975 in Genf, in: DGBA (AdsD), Sekretariat Günter Stephan, 5/DGCU000361.

(2) Bericht über die 60. IAK vom 4.-25. Juni 1975 in Genf, in: DGBA (AdsD), Sekretariat Günter Stephan, 5/DGCU000361.

 

Es handelt sich um einen modifizierten und aktualisierten Text, der auf einem Lesungstext und auf dem Text des 5. Kapitels von "Anders links sein" beruht. Stefan Remeke: Anders links sein. Auf den Spuren von Maria Weber und Gerd Muhr, Essen 2012, S. 399 ff. Weiterführende Quellen- und Literaturverweise ebd., S. 502 ff. und S. 527 ff.

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Lesen Sie als Fortsetzung:

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Nadelstichdiplomatie gegen Autokraten

 

Deutsche Gewerkschafter

und Franco 

 

 

 

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